Die Kunst der Veränderung

Gerhard Fatzer und Daniel C. Schmid schaffen mit ihrer Herausgeberschrift „Die Kunst der Veränderung. Vorurteilslose Führung und Organisationsentwicklung“ nicht nur eine Grundlage für fundierte Veränderungsarbeit in Unternehmen, sondern auch einen State of the Art im Diskurs um das Thema Organisationsentwicklung. Ein nachhaltiges Produkt anlässlich des 30jährigen Bestehens des Trias Instituts bzw. des langjährigen Netzwerkes zwischen deutschen und amerikanischen Forschern und Praktikern. 

Die Kunst der Veränderung
Die Kunst der Veränderung. Von Gerhard Fatzer und Daniel C. Schmid (Hg.), erschienen im November 2021, 257 Seiten, Paperback, ISBN 978-3837929270

Veränderung als Kunst

„Die Kunst vollendet das, was die Natur nicht ins Werk umsetzen kann (..).“ sagte Aristoteles vor mehr als zweitausend Jahren. Gestattet man es sich heute, für diese von Natur aus schwer umsetzbaren Dinge all die Veränderungsinitiativen, Changeprojekte und Transformationen einzusetzen, die in den letzten Jahrzehnten Millionen MitarbeiterInnen, Führungskräfte, BeraterInnen und Coaches beschäftigten und viel zu oft nicht zu den gewünschten Effekten führten, lässt der Titel dieser Herausgeberschrift hoffnungsvoll stimmen. Für diese Hoffnung, für diese „Linie um die Gedanken“, für eine Annäherung an diese „Kunst der Veränderung“ haben Gerhard Fatzer und Daniel C. Schmid einige der maßgeblichsten Stimmen zu den Themen Führung, Veränderung, Organisations- und Kulturentwicklung zu Wort kommen lassen. 

Einer von ihnen ist Edgar Schein. Der mittlerweile über 90jährige Schein gilt nach wie vor als Thoughtleader der Organisationsentwicklung. Er beeindruckt nicht nur durch sein Lebenswerk, sondern auch durch seine Aussagen, die in diesem Buch mit so viel Klarheit und Einfachheit daherkommen, dass man sich als LeserIn beinahe beschämt fühlt, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Die Autoren räumen Ed Schein und seinen Theorien zurecht viel Platz in ihrem Buch ein. Darüber hinaus betrachten und ergänzen international renommierter Experten wie Peter Senge, Claus Otto Scharmer oder Peter Schein – um nur einige von ihnen zu nennen – Scheins Ansätze aus ihren Blickwinkeln.

Erwarten Sie in diesem Buch aber keine How Tos oder Leadership Tipps zum Mitnehmen! Dann werden Sie es womöglich enttäuscht zur Seite legen. Vielleicht jedoch zieht Sie die Weisheit des Ed Schein und jene seiner WegbegleiterInnen aber zuvor in ihren Bann und Sie erkennen den Wert darin, nicht immer gleich nach dem WIE zu fragen. Vielleicht ergeht es Ihnen dann wie mir und Sie erleben erhellende Aha-Situationen, in denen sich Wahrnehmungen und Gedanken plötzlich zu einer Logik zusammenfügen und in den im Buch dargestellten Grundlagen und Theorien eine Erklärung finden. Einige dieser Erkenntnisse möchte ich nachfolgend schildern: 

Persönliche Beziehung statt Menschen in den Mittelpunkt stellen

Als aufmerksame Beobachterin des allgemeinen Diskurses rund um die Themen Neue Arbeitswelten oder New Work stößt man immer wieder auf die von vielen ExpertenInnen mit Nachdruck kommunizierte Aufforderung, doch endlich wieder den Menschen mitsamt seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen. Zu welchen oberflächlichen Entwicklungen dieser Appell vielerorts führt, wissen wir. Was wohl eher darunter verstanden werden soll, bringt Ed Schein auf den Punkt. In dem mit ihm geführten Interview, das den passenden Titel „Lasst uns einander kennenlernen“ trägt, sagt Schein: 

Die wichtigste Antwort auf die Frage, was wir anders machen müssen, lautet also: persönliche Beziehungen aufbauen.“ 

Ed Schein

„Level-2-Beziehungen“ oder „professionelle Nähe“ nennt Schein diese Art von Beziehung, die für ihn nicht nur eine gute Empfehlung darstellt um das Betriebsklima angenehmer zu gestalten, sondern eine entscheidende Grundlage dafür ist, „schneller zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen“.   

Unterstützt wird Schein von seinen WegbegleiternInnen, deren Antworten auf die Frage nach einer erfolgreichen Bewältigung von Krisen wie jener, die wir gerade erleben oder der Klima- oder Umweltkrise, die bereits in der Pipeline steht, sich wie folgt zusammenfassen lassen:  „It’s all about collaboration, and not competition!“

Gewicht bekommen die Einschätzungen dieser ExpertenInnen mit dem Blick in die 1960iger Jahre, als Ed Schein am MIT mit seinen SchülerInnen jene Erkenntnisse teilte, die wir heute als richtungsweisend feiern. Dieser Blick zurück lässt uns erkennen: Ed Schein war zumeist seiner Zeit voraus. Ein guter Grund, sich seine Einschätzungen zur Zukunft aufmerksam anzuhören. 

Führung braucht persönliche Beziehung

Scheins Aufforderung, persönliche Beziehungen zu bauen, kann selbstverständlich nicht nachgekommen werden, ohne das etablierte Führungsverständnis komplett zu überholen. „Führung kann nur auf der Basis persönlicher Beziehungen funktionieren.“ So beschreibt Gerhard Fatzer Ed Scheins Führungsansatz, „Humble Leadership“, in seinem Beitrag zu Scheins zukunftsweisendem Lebenswerk. Nur diese Art der Führung befähige eine Organisation, wichtige Herausforderungen zu meistern und Komplexität zu bewältigen. Dabei sei sie weniger als ein Ansatz oder ein Tool, sondern vielmehr als eine innere Haltung zu verstehen. Eine Haltung, die unter anderem von Demut gekennzeichnet ist. 

Demut heißt nicht, sich geringer als andere zu fühlen, sondern sich von der Anmaßung der eigenen Wichtigkeit zu befreien

Matthieu Ricard, frei zitiert von Michael Rautenberg

Der Dialog als Schlüssel zur kollektiven Intelligenz

Sich von seiner eigenen Wichtigkeit  befreien – ein Appell, den die AutorenInnen dieser Beiträge wiederholt an die Führungskräfte unserer Zeit richten. Die Aufgabe der Führungskräfte sei es, Fragen zu stellen, und nicht Antworten zu geben, sagt Amy C. Edmonson. Auch Ed Schein ermutigt Führungskräfte, sich vom Typus „Helden CEO“ zu befreien, der zu jederzeit eine Antwort, eine Richtungsvorgabe, parat haben müsse. Dass uns dieses Modell immer wieder in Schwierigkeiten bringt, wird augenscheinlich, wenn wir anerkennen, wie umfassend und radikal neu die Veränderungen sind, die uns VUKA bringt: „Die aktuell laufenden Veränderungsprozesse in dieser neuen Welt betreffen den Menschen in seiner Identität, seinem Menschenbild und Weltverständnis“, schreibt Constantin Peer, der den/die LesernIn im zweiten Teil des Buches mit seinem Beitrag zur „Kraft des Dialogs“ konkrete Impulse zur Analyse und Weiterentwicklung der eigenen Dialogkultur mitgibt. Er ist davon überzeugt, dass Unternehmen auf das gemeinsame Wissen und die kollektive Intelligenz angewiesen seien, um sich im Wettbewerb behaupten zu können. Der Schlüssel dafür liegt für Peer in einer zeitgemäßen Dialogkultur: „Die erfolgreiche Nutzung der kollektiven Intelligenz hängt davon ab, wie aktiv, offen, interdisziplinär und auf gegenseitiger Augenhöhe man sich austauscht und inwieweit es gelingt, Störfaktoren wie Schuldzuweisungen, Silodenken (…) zu erkennen und zu überwinden“. Oder wie Fatzer es ausdrückt: 

Das Fehlen dialogischer Praxis limitiert die kollektive Intelligenz, die im Dialog entstehen kann. Dialog ist in dem Sinne Grundlage einer lernfähigen Organisation.

Gerhard Fatzer

Persönlichmachen als der einzige Weg zur Verbindlichkeit

Ein letztes Aha-Erlebnis sei in diesem Kontext noch erwähnt: „Persönlichmachen“ von Beziehungen fördert in der VUKA-Welt nicht nur den Zugriff auf das kollektive Wissen, es erzeugt auch Verbindlichkeit. Eine Art der Bindung, die die Individualisierungstendenzen der VUKA-Welt „nicht ins Werk umsetzen“ können. „Verbindlichkeit kann oft nur über die Beziehungsebene (Vertrauen zur Person, Zutrauen zu fachlicher Kompetenz) geschaffen werden, weil viele Dinge nicht mehr planbar sind oder die Zeit für Abmachungen fehlt“, schreibt Peer und schließt damit „die Linie um die Gedanken“, die Ed Schein in seinem Interview zu Beginn des Buches begonnen hat.

Fazit

Mit ihrem Buch „Kunst der Veränderung“ ist den Herausgebern gelungen, mit Hilfe von unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Thema Veränderung ein großes Ganzes zu schaffen, das wichtige Zusammenhänge erschließt und das seine LeserInnen der Kunst der Veränderung näher als in so manch anderem Buch kommen lässt. Dem beruflichen Wirken der Autoren geschuldet – sie alle blicken auf beeindruckende Karrieren in der internationalen Forschung und Lehre zurück – ist die wissenschaftliche Sprache und die inhaltliche Dichte der Beiträge. Es sind keine Handlungsanleitungen, die den Mehrwert in diesem Buch schaffen, sondern die fundierten Grundlagen, die wertvollen Erkenntnisse und zukunftsweisende Gedanken, die Führungskräften, ManagerInnen, Coaches und BegleiterInnen von Veränderungsprozessen durchaus – wie von den Herausgebern beabsichtigt – Inspiration für ihr tägliches Tun sein können. 

Ein Buch, das Sie auch interessieren könnte, wenn Sie über Neues Führen nachdenken: Wir führen anders, von Mark Poppenborg.

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