Leben mit Hirn

Wissen Sie, dass wir mit unseren Gedanken die Aktivität unseres Gehirns verändern können? Dass wir unser Stresslevel senken, wenn wir Selbstgespräche führen oder seltener durch die Decke gehen, wenn wir Situationen umdeuten? Das alles erzählt uns Sebastian Purps-Pardigol in seinem neuen Buch „Leben mit Hirn“. Ein Buch mit dem Potential, uns vor dem nächsten Wutausbruch zu bewahren.

Leben mit Hirn
Leben mit Hirn. Von Sebastian Purps-Pardigol, erschienen im August 2021 im Campus Verlag. 248 Seiten, Paperback, ISBN 978-3593514710

Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich bereit erklärt, an einer Studie teilzunehmen. Wie bei Studien üblich, wissen sich nicht genau, worum es geht. Am Tag der Durchführung eröffnet Ihnen der Versuchsleiter: Hinter dieser Tür befindet sich eine Bühne. Davor haben bereits fünzig Gäste Platz genommen. In 10 Minuten werden Sie diese Bühne betreten. Ihre Aufgabe ist es, das Publikum davon zu überzeugen, dass genau Sie die richtigen Fähigkeiten mitbringen, um in die zweite Runde zu gelangen. In 10 Minuten geht’s los.

Na? Beginnt bereits beim Gedanken daran Ihr Blutdruck zu steigen? Fangen Ihre Hände an zu schwitzen? Und wie würde es Ihnen auf der Bühne ergehen, wenn die Zuschauer im Saal auch noch ganz demonstrativ ihr Desinteresse oder sogar ihre Abneigung kundtun? Verzweiflung? Blackout? Wut? Was Sie hier lesen ist die Beschreibung eines Trier Social Stress Tests, eines der bekanntesten Forschungsinstrumente im Bereich der Stressforschung.

Was löst Stress in unserem Körper aus?

Sie müssen nicht an einem solchen Test teilnehmen, damit ihr Gehirn auf ROT schaltet. Manchmal reicht der Streit mit dem Partner, ein wichtiger Kundentermin oder das Kleinkind, das sich an der Supermarktkasse auf den Boden schmeißt. In diesen Momenten springt das Notfallprogramm in unserem Gehirn an: große Mengen an Adrenalin werden ausgeschüttet, unser Herz beginnt schneller zu schlagen um sauerstoffreiches Blut in unsere Muskeln zu pumpen. Verlieren wir in diesen Situationen den Zugriff auf unseren präfontalen Cortex, kann unser Hirn nur mehr mit einer der drei Überlebensstrategien reagieren: Angriff, Flucht oder Starre. Wir kennen das als unkontrolliertes Ausrasten im Streit, als verzweifeltes Verlassen der Bühne oder als Blackout bei der Klassenarbeit. 

Tipps zur Stressbewältigung

„Wir können durch unsere Gedanken innerhalb eines Augenblicks die neuronale Aktivität unseres Gehirns verändern.“

Sebastian Purps-Pardigol hat in den vergangenen 18 Monaten wiederholt mit Menschen gesprochen, die in beeindruckender Art und Weise in der Lage sind, in herausfordernden Situationen gelassen zu bleiben. Unter ihnen finden sich Geiselverhandler der Polizei, Fluglotsen oder UN-Friedensmediatoren. In seinem Buch „Leben mit Hirn“ erzählt Purps-Pardigol ihre Geschichten und untermauert ihre Strategien mit empirischen Daten.

Das Ergebnis sind Tipps zur Stressbewältigung für das wahre Leben:

  • von Selbstgesprächen in der 2. Person-Singular, die zu mehr Gelassenheit führen,
  • über die Pomodoro-Technik, um das Singletasking zu erleichtern oder
  • eine Anleitung zur Nasenatmung, die jene neuronalen Netzwerke wieder synchronisiert, die für klare Gedanken zuständig sind. Und natürlich viele mehr.

Neben klaren Gedanken ist es auch unsere Fähigkeit zur Empathie, die durch unkontrollierten Stress vermindert oder eben durch gezielte Strategien gefördert wird. Im Klartext heißt das: Sind wir in der Lage mit unseren Impulsen umzugehen, steigern wir nicht nur unsere kognitive Leistungsfähigkeit, wie verbessern auch unsere Beziehungen. 

Unserem Gehirn ist Glück egal

„Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, uns am Leben zu erhalten. Es ist nicht seine Aufgabe, uns glücklich zu machen. Darum müssen wir uns selbst kümmern.“

Mit dieser irritierenden wie auch interessanten Erkenntnis eröffnet der Autor einen weiteren zentralen Aspekt seines Buches: Für die Freude in unserem Leben sind wir selbst zuständig. „Wir sind neuronal so konstruiert, dass wir Gefahren erkennen, um sie jetzt und in der Zukunft zu vermeiden.“ Diese Gefahren muss unser Gehirn aus 12 Millionen Impulsen pro Sekunde herausfiltern. Bei dieser Datenflut kann man es unserem Gehirn auch nicht übel nehmen, uns gelegentlich etwas in die Irre zu führen. Diese „Irreführung“ passiert, weil unser hochoptimierter Ausleseprozesses die Gefahr fokussiert. Sie muss erkannt werden, um das Überleben zu sichern.

Der Nachteil dieses Sytems: es filtere auch viele angenehme und gute Informationen weg, erklärt Purps-Pardigol. „Um diese wieder reinzulassen, müssen wir bewusst in den Automatismus in unserem Kopf eingreifen und unseren Fokus neu ausrichten.“ Wie das gehen kann, weiß zum Beispiel der „glücklichste Mensch der Welt“. Bei Matthieu Ricard wurden Gehirnaktivitäten in bestimmten, für Glück und Wohlbefinden zuständigen Gehirnregionen gemessen, die in dieser Intensität noch nie zuvor aufgezeichnet werden konnte. Sebastian Purps-Pardigol erzählt seine Geschichte und stellt eine Form der Meditation vor, die uns vielleicht in die Nähe von Matthieu Ricard bringen könnte.

5 Sterne für viele Erkenntnisse und eine hohe Anwendbarkeit

Ich mag es sehr, wenn sich Autoren die Mühe machen, nicht nur Erkenntnisse preiszugeben, sondern auch Anwendungen daraus vorzuschlagen. Sebastian Purps-Pardigol tut das in sehr sympathischer und nützlicher Art und Weise. Im letzten Kapitel fasst er die wichtigsten Themen seines Buches zusammen und stellt eine Matrix zur Verfügung, die dem Leser dabei helfen kann, die richtige Anwendung für seine individuelle Situation zu finden.

Bei mir hat es gefruchtet. Seit der Lektüre starte ich meine Tage mit Atemübungen und unterteile mein Arbeitspensum in Einzelschritte um mich vom Multitasking abzuhalten. Außerdem gehe ich abends mit noch mehr Vorfreude ins Bett, seitdem ich weiß, dass nun gleich meine Gehirnwäsche beginnen wird, die mich am nächsten Tag mit einem klaren Kopf munter werden lässt. Ein sehr ermutigendes Buch, das nicht nur über das Wunder Mensch staunen lässt, sondern auch dazu motiviert, mit dem eigenen Ressourcen achtsam umzugehen.

Ich habe gemeinsam mit Marcella Behrens, aka Sachbuchleserin, das Buch bei unserem letzten #businessbuchtalk diskutiert. Hier kannst du dir den Talk ansehen.

Wenn ihr an mehr wertvollen Impulsen interessiert seid, wie ihr euer (Arbeits)Leben effektiver gestalten könnt, empfehle ich euch das Buch „Das Intervallprinzip“ von Carola Kleinschmidt. Hier gehts zur Rezension.

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